1O


Ich wußte sehr gut, daß Kinkel überraschend nett zu mir gewesen war. Ich glaube, er hätte mir sogar Geld gegeben, wenn ich ihn drum gebeten hätte. Sein Gerede von Metaphysik mit der Zigarre im Mund und die plötzliche Gekränktheit, als ich von seinen Madonnen anfing, das war mir doch zu ekelhaft. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Auch mit Frau Fredebeul nicht. Weg, Fredebeul selbst würde ich bei irgendeiner Gelegenheit einmal ohrfeigen. Es ist sinnlos, gegen ihn mit »geistigen Waffen« zu kämpfen. Manchmal bedaure ich, daß es keine Duelle mehr gibt. Die Sache zwischen Züpfner und mir, wegen Marie, wäre nur durch ein Duell zu klären gewesen. Es war scheußlich, daß sie mit Ordnungsprinzipien, schriftlichen Erklärungen und tagelangen Geheimbesprechungen in einem Hannoverschen Hotel geführt worden war. Marie war nach der zweiten Fehlgeburt so herunter, nervös, rannte dauernd in die Kirche und war gereizt, wenn ich an meinen freien Abenden nicht mit ihr ins Theater, ins Konzert oder zu einem Vortrag ging. Wenn ich ihr vorschlug, doch wieder wie früher Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, Tee dabei zu trinken und auf dem Bauch im Bett zu liegen, wurde sie noch gereizter. Im Grunde fing die Sache damit an, daß sie nur noch aus Freundlichkeit, um mich zu beruhigen oder nett zu mir zu sein, Mensch-ärgere-dich-nicht mit mir spielte. Und sie ging auch nicht mehr mit in die Filme, in die ich so gern gehe: die für Sechsjährige zugelassen sind.

Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der einen Clown versteht, nicht einmal ein Clown versteht den anderen, da ist immer Neid oder Mißgunst im Spiel. Marie war nah daran, mich zu verstehen, ganz verstand sie mich nie. Sie meinte immer, ich müßte als »schöpferischer Mensch« ein »brennendes Interesse« daran haben, soviel

Kultur wie möglich aufzunehmen. Ein Irrtum. Ich würde natürlich sofort

ein Taxi nehmen, wenn ich abends frei hätte und erführe, daß irgendwo Beckett gespielt wird, und ich gehe auch bin und wieder ins Kino, wenn ich genau überlege, sogar oft, und immer nur in Filme, die auch für Sechsjährige zugelassen sind. Marie konnte das nie verstehen, ein großer Teil ihrer katholischen Erziehung bestand eben doch nur aus psychologischen Informationen und einem mystisch verbrämten Rationalismus, im Rahmen des »Laßt sie Fußball spielen, damit sie nicht an Mädchen denken«. Dabei dachte ich so gern an Mädchen, später immer nur an Marie. Ich kam mir manchmal schon wie ein Unhold vor. Ich gehe gern in diese Filme für Sechsjährige, weil darin von dem Erwachsenenkitsch mit Ehebruch und Ehescheidung nichts vorkommt. In den Ehebruchs- und Ehescheidungsfilmen spielt immer irgend jemandes Glück eine so große Rolle. »Mach mich glücklich, Liebling« oder »Willst du denn meinem Glück im Wege stehen?« Unter Glück, das länger als eine Sekunde, vielleicht zwei, drei Sekunden dauert, kann ich mir nichts vorstellen. Richtige Hurenfilme sehe ich wieder ganz gern, aber es gibt so wenige. Die meisten sind so anspruchsvoll, daß man gar nicht merkt, daß es eigentlich Hurenfilme sind. Es gibt noch eine Kategorie von Frauen, die nicht Huren und nicht Ehefrauen sind, die barmherzigen Frauen, aber sie werden in den Filmen vernachlässigt. In den Filmen, die für Sechsjährige zugelassen sind, wimmelt es meistens von Huren. Ich habe nie begriffen, was die Ausschüsse, die die Filme einstufen, sich dabei denken, wenn sie solche Filme für Kinder zulassen. Die Frauen in diesen Filmen sind entweder von Natur Huren, oder sind es nur im soziologischen Sinn; barmherzig sind sie fast nie. Da tanzen in irgendeinem Wild-west-Tingel-tangel Blondinen Cancan, rauhe Cowboys, Goldgräber oder Trapper, die zwei Jahre lang in der Einsamkeit hinter Stinktieren her gewesen sind, schauen den hübschen, jungen Blondinen beim Cancantanzen zu, aber wenn diese Cowboys, Goldgräber, Trapper dann hinter den

Mädchen hergehen und mit auf deren Zimmer wollen, kriegen sie mei-

stens die Tür vor der Nase zugeknallt, oder irgendein brutales Schwein boxt sie unbarmherzig nieder. Ich denke mir, daß damit etwas wie Tugendhaftigkeit ausgedrückt werden soll. Unbarmherzigkeit, wo Barmherzigkeit das einzig Menschliche wäre. Kein Wunder, daß die armen Hunde dann anfangen, sich zu prügeln, zu schießen, - es ist wie das Fußballspielen im Internat, nur, da es erwachsene Männer sind, unbarmherziger. Ich verstehe die amerikanische Moral nicht. Ich denke mir, daß dort eine barmherzige Frau als Hexe verbrannt würde, eine Frau, die es nicht für Geld und nicht aus Leidenschaft für den Mann tut, nur aus Barmherzigkeit mit der männlichen Natur.

Besonders peinlich finde ich Künstlerfilme. Künstlerfilme werden wohl meistens von Leuten gemacht, die van Gogh für ein Bild nicht einmal ein ganzes, sondern nur ein halbes Paket Tabak gegeben und später auch das noch bereut hätten, weil ihnen klar geworden wäre, daß er es ihnen für eine Pfeife Tabak auch gegeben hätte. In Künstlerfilmen wird das Leiden der Künstlerseele, die Not und das Ringen mit dem Dämon immer in die Vergangenheit verlegt. Ein lebender Künstler, der keine Zigaretten hat, keine Schuhe für seine Frau kaufen kann, ist uninteressant für die Filmleute, weil noch nicht drei Generationen von Schwätzern ihnen bestätigt haben, daß er ein Genie ist. Eine Generation von Schwätzern würde ihnen nicht ausreichen.

»Das ungestüme Suchen der Künstlerseele.« Sogar Marie glaubte daran. Peinlich, es gibt so etwas Ähnliches, man sollte es nur anders nennen. Was ein Clown braucht, ist Ruhe, die Vortäuschung von dem, was andere Leute Feierabend nennen. Aber diese anderen Leute begreifen eben nicht, daß die Vortäuschung von Feierabend für einen Clown darin besteht, seine Arbeit zu vergessen, sie begreifen es nicht, weil sie sich, was für sie wieder vollkommen natürlich ist, erst an ihrem Feierabend mit sogenannter Kunst beschäftigen. Ein Problem für sich sind die künstlerischen

Menschen, die an nichts anderes als Kunst denken, aber keinen Feierabend

nicht arbeiten. Wenn dann einer anfängt, einen künstlerischen Menschen zum Künstler zu ernennen, entstehen die peinlichsten Mißverständnisse. Die künstlerischen Menschen fangen immer genau dann von Kunst an, wenn der Künstler gerade das Gefühl hat, so etwas wie Feierabend zu haben. Sie treffen meistens den Nerv ganz genau, in diesen zwei, drei, bis zu fünf Minuten, wo der Künstler die Kunst vergißt, fängt ein künstlerischer Mensch von van Gogh, Kafka, Chaplin oder Beckett an. In solchen Augenblicken möchte ich am liebsten Selbstmord begehen - wenn ich anfange, nur an die Sache zu denken, die ich mit Marie tue, oder an Bier, fallende Blätter im Herbst, an Mensch-ärgere-dich-nicht oder an etwas Kitschiges, vielleicht Sentimentales, fängt irgendein Fredebeul oder Sommerwild von Kunst an. Genau in dem Augenblick, wo ich das ungeheuer erregende Gefühl habe, ganz normal zu sein, auf eine so spießige Weise normal wie Karl Emonds, fangen Fredebeul oder Sommerwild von Claudel oder Ionesco an. Ein bißchen davon hat auch Marie, früher weniger, in der letzten Zeit mehr. Ich merkte es als ich ihr erzählte, daß ich anfangen würde, Lieder zur Guitarre zu singen. Es traf, wie sie sagte, ihren ästhetischen Instinkt. Der Feierabend des Nichtkünstlers ist die Arbeitszeit eines Clowns. Alle wissen, was Feierabend ist, vom hochbezahlten Manager bis zum einfachsten Arbeiter, ob diese Burschen Bier trinken oder in Alaska Bären schießen, ob sie Briefmarken sammeln, Impressionisten oder Expressionisten (eins ist sicher, wer Kunst sammelt, ist kein Künstler). — Schon die Art, wie sie sich ihre Feierabendzigarette anstecken, eine bestimmte Miene aufsetzen, kann mich zur Raserei bringen, weil ich dieses Gefühl gerade gut genug kenne, sie um die Dauer dieses Gefühls zu beneiden. Es gibt Augenblicke des Feierabends für einen Clown - dann mag er die Beine aus- strecken und für eine halbe Zigarette lang wissen, was Feierabend ist. Mörderisch ist der sogenannte Urlaub: das kennen die anderen offenbar für drei, vier, sechs Wochen!

Marie hat ein paarmal versucht, mir dieses Gefühl zu verschaffen, wir

fuhren an die See, ins Binnenland, in Bäder, ins Gebirge, ich wurde schon am zweiten Tag krank, war von oben bis unten mit Pusteln bedeckt, und meine Seele war voller Mordgedanken. Ich denke, ich war krank vor Neid. Dann kam Marie auf den fürchterlichen Gedanken, mit mir Ferien zu machen an einem Ort, wo Künstler Urlaub machen. Natürlich waren es lauter künstlerische Menschen, und ich hatte am ersten Abend schon eine Schlägerei mit einem Schwachsinnigen, der im Filmgewerbe eine große Rolle spielt und mich in ein Gespräch über Grock und Chaplin und den Narren in Shakespeares Dramen verwickelte. Ich wurde nicht nur ganz schön zusammengeschlagen (diese künstlerischen Menschen, die es fertigbringen, von kunstähnlichen Berufen gut zu leben, arbeiten ja nicht und strotzen vor Kraft), ich bekam auch eine schwere Gelbsucht. Sobald wir aus diesem fürchterlichen Nest heraus waren, wurde ich rasch wieder gesund.

Was mich so unruhig macht, ist die Unfähigkeit, mich zu beschränken, oder, wie mein Agent Zohnerer sagen würde, zu konzentrieren. Meine Nummern sind zu sehr gemischt aus Pantomime, Artistik, Clownerie - ich wäre ein guter Pierrot, könnte aber auch ein guter Clown sein, und ich wechsle meine Nummern zu oft. Wahrscheinlich hätte ich mit den Nummern katholische und evangelische Predigt, Aufsichtsratssitzung, Straßenverkehr und ein paar anderen jahrelang leben können, aber wenn ich eine Nummer zehn- oder zwanzigmal gezeigt habe, wird sie mir so langweilig, daß ich mitten im Ablauf Gähnanfälle bekomme, buchstäblich, ich muß meine Mundmuskulatur mit äußerster Anspannung disziplinieren. Ich langweile mich über mich selbst. Wenn ich mir vorstelle, daß es Clowns gibt, die dreißig Jahre lang dieselben Nummern vorführen, wird mir so bang ums Herz, als wenn ich dazu verdammt wäre, einen ganzen Sack Mehl mit einem Löffel leerzuessen. Mir muß eine Sache Spaß machen, sonst werde ich krank. Plötzlich fällt mir ein, ich könnte

möglicherweise auch jonglieren oder singen: alles Ausflüchte, um dem täglichen

destens vier, möglichst sechs Stunden Training, besser noch länger. Ich hatte auch das in den vergangenen sechs Wochen vernachlässigt und mich täglich mit ein paar Kopfständen, Handständen und Purzelbäumen begnügt und auf der Gummimatte, die ich immer mit mir herumschleppe, ein bißchen Gymnastik gemacht. Jetzt war das verletzte Knie eine gute Entschuldigung, auf der Couch zu liegen, Zigaretten zu rau- chen und Selbstmitleid zu inhalieren. Meine letzte neue Pantomime Ministerrede war ganz gut gewesen, aber ich war es leid, zu karikieren, und kam doch über eine bestimmte Grenze nicht hinaus. Alle meine lyrischen Versuche waren gescheitert. Es war mir noch nie gelungen, das Menschliche darzustellen, ohne furchtbaren Kitsch zu produzieren. Meine Nummern Tanzendes Paar und Schulgang und Heimkehr aus der Schule waren wenigstens artistisch noch passabel. Als ich aber dann Lebenslauf eines Mannes versuchte, fiel ich doch wieder in die Karikatur. Marie hatte recht, als sie meine Versuche, Lieder zur Guitarre zu singen, als Fluchtversuch bezeichnete. Am besten gelingt mir die Darstellung alltäglicher Absurditäten: ich beobachte, addiere diese Beobachtungen, potenziere sie und ziehe aus ihnen die Wurzel, aber mit einem anderen Faktor als mit dem ich sie potenziert habe. In jedem größeren Bahnhof kommen morgens Tausende Menschen an, die in der Stadt arbeiten - und es fahren Tausende aus der Stadt weg, die außerhalb arbeiten. Warum tauschen diese Leute nicht einfach ihre Arbeitsplätze aus? Oder die Autoschlangen, die sich in Hauptverkehrszeiten aneinander vorbeiquälen. Austausch der Arbeits- oder Wohnplätze, und die ganze überflüssige Stinkerei, das dramatische Mit-den-Armen- rudern der Polizisten wäre zu vermeiden: es wäre so still auf den Straßenkreuzungen, daß sie dort Mensch-ärgere-dich-nicht spielen könnten. Ich machte aus dieser Beobachtung eine Pantomime, bei der ich nur mit Händen und Füßen arbeite, mein Gesicht unbewegt und schneeweiß immer in der Mitte bleibt, und es gelingt mir, mit

meinen vier Extremitäten den Eindruck einer ungeheuren Quantität von über-

stürztet Bewegung zu erwecken. Mein Ziel ist: möglichst wenig, am besten gar keine Requisiten. Für die Nummer Schulgang und Heimkehr von der Schule brauche ich nicht einmal einen Ranzen; die Hand, die ihn hält, genügt, ich renne vor bimmelnden Straßenbahnen im letzten Augenblick über die Straße, springe auf Busse, von diesen ab, werde durch Schaufenster abgelenkt, schreibe mit Kreide orthographisch Falsches an Häuserwände, stehe - zu spät gekommen - vor dem scheltenden Lehrer, nehme den Ranzen von der Schulter und schleiche mich in die Bank. Das Lyrische in der kindlichen Existenz darzustellen gelingt mir ganz gut: im Leben eines Kindes hat das Banale Größe, es ist fremd, ohne Ordnung, immer tragisch. Auch ein Kind hat nie Feierabend als Kind; erst, wenn die »Ordnungsprinzipien« angenommen werden, fängt der Feierabend an. Ich beobachte jede Art der Feierabendäußerung mit fanatischem Eifer: wie ein Arbeiter die Lohntüte in die Tasche steckt und auf sein Motorrad steigt, wie ein Börsenjobber endgültig den Telefonhörer aus der Hand legt, sein Notizbuch in die Schublade legt, diese abschließt oder eine Lebensmittelverkäuferin die Schürze ablegt, sich die Hände wäscht und vor dem Spiegel ihr Haar und ihre Lippen zurechtmacht, ihre Handtasche nimmt - und weg ist sie, es ist alles so menschlich, daß ich mir oft wie ein Unmensch vorkomme, weil ich den Feierabend nur als Nummer vorführen kann. Ich habe mich mit Marie darüber unterhalten, ob ein Tier wohl Feierabend haben könnte, eine Kuh, die wiederkäut, ein Esel, der dösend am Zaun steht. Sie meinte, Tiere, die arbeiten und also Feierabend hätten, wären eine Blasphemie. Schlaf wäre so etwas wie Feierabend, eine großartige Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier, aber das Feierabendliche am Feierabend wäre ja, daß man ihn ganz bewußt erlebt. Sogar Ärzte haben Feierabend, neuerdings sogar die Priester. Darüber ärgere ich mich, sie dürften keinen haben und müßten wenigstens das am Künstler verstehen. Von Kunst brauchen sie gar nichts zu verstehen, nichts von

Sendung, Auftrag und solchem Unsinn, aber von

der Natur des Künstlers. Ich habe mich mit Marie immer darüber gestritten, ob der Gott, an den sie glaubt, wohl Feierabend habe, sie behauptete immer ja, holte das Alte Testament heraus und las mir aus der Schöpfungsgeschichte vor: Und am siebten Tage ruhte Gott. Ich widerlegte sie mit dem Neuen Testament, meinte, es könnte ja sein, daß der Gott im Alten Testament Feierabend gehabt habe, aber ein Christus mit Feierabend wäre mir unvorstellbar. Marie wurde blaß, als ich das sagte, gab zu, daß ihr die Vorstellung eines Christus mit Feierabend blasphemisch vorkomme, er habe gefeiert, aber wohl nie Feierabend gehabt.

Schlafen kann ich wie ein Tier, meistens traumlos, oft nur für Minuten, und habe doch das Gefühl, eine Ewigkeit lang weg gewesen zu sein, als hätte ich den Kopf durch eine Wand gesteckt, hinter der dunkle Unendlichkeit liegt, Vergessen und ewiger Feierabend, und das, woran Henriette dachte, wenn sie plötzlich den Tennisschläger auf den Boden, den Löffel in die Suppe fallen ließ oder mit einem kurzen Schwung die Spielkarten ins Feuer warf: nichts. Ich fragte sie einmal, woran sie denke, wenn es über sie käme, und sie sagte: »Weißt du es wirklich nicht ?« —

»Nein«, sagte ich, und sie sagte leise: »An nichts, ich denke an nichts.« Ich sagte, man könne doch gar nicht an nichts denken, und sie sagte: »Doch, das kann man, ich bin dann plötzlich ganz leer und doch wie betrunken, und ich möchte am liebsten auch noch die Schuhe abwerfen und die Kleider - ohne Ballast sein.« Sie sagte auch, es sei so großartig, daß sie immer darauf warte, aber es käme nie, wenn sie drauf warte, immer ganz unerwartet, und es sei wie eine Ewigkeit. Sie hatte es auch ein paarmal in der Schule gehabt, ich erinnere mich der heftigen Telefongespräche meiner Mutter mit der Klassenlehrerin und des Ausdrucks: »Ja, ja, hysterisch, das ist das Wort - und bestrafen Sie sie hart.«

Ich habe ein ähnliches Gefühl der großartigen Leere manchmal beim Mensch-


ärgere-dich-nicht-Spielen, wenn es über drei, vier Stunden lang dauert; allein die

wenn man eine Puppe schlägt. Ich brachte sogar Marie, die mehr zum Schachspielen neigt, dazu, süchtig auf dieses Spiel zu werden. Es war wie ein Narkotikum für uns. Wir spielten es manchmal fünf, sechs Stunden lang hintereinander, und Kellner und Zimmermädchen, die uns Tee oder Kaffee brachten, hatten die gleiche Mischung aus Angst und Wut im Gesicht wie meine Mutter, wenn es über Henriette kam, und manchmal sagten sie, was die Leute im Bus gesagt hatten, als ich von Marie nach Hause fuhr: »Unglaublich.« Marie erfand ein sehr kompliziertes Anschreibesystem mit Punkten: je nachdem, wo einer rausgeschmissen wurde oder einen rausschmiß, bekam er Punkte, eine interessante Tabelle entwickelte sie, und ich kaufte ihr einen Vierfarbenstift, weil sie die passiven Werte und die aktiven Werte, wie sie sie nannte, dann besser markieren konnte. Manchmal spielten wir es auch während langer Eisenbahnfahrten zum Erstaunen seriöser Fahrgäste - bis ich ganz plötzlich merkte, daß Marie nur noch mit mir spielte, weil sie mir eine Freude machen, mich beruhigen, meiner »Künstlerseele« Entspannung verschaffen wollte. Sie war nicht mehr dabei, vor ein paar Monaten fing es an, als ich mich weigerte, nach Bonn zu fahren, obwohl ich fünf Tage lang hintereinander keine Vorstellung hatte. Ich wollte nicht nach Bonn. Ich hatte Angst vor dem Kreis, hatte Angst, Leo zu begegnen, aber Marie sagte dauernd, sie müsse noch einmal »katholische Luft« atmen. Ich erinnerte sie daran, wie wir nach dem ersten Abend im Kreis von Bonn nach Köln zurückgefahren waren, müde, elend und niedergeschlagen, und wie sie dauernd im Zug zu mir gesagt hatte:

»Du bist so lieb, so lieb«, und an meiner Schulter geschlafen hatte, manchmal nur war sie aufgeschreckt, wenn draußen der Schaffner die Stationsnamen aufrief: Sechtem, Walberberg, Brühl, Kalscheuren - sie zuckte jedesmal zusammen, schrak hoch, und ich drückte ihren Kopf wieder an meine Schulter, und als wir in Köln-West ausstiegen, sagte sie: »Wir wären besser ins Kino gegangen.« Ich erinnerte sie daran, als sie von

der katholischen Luft, die sie atmen müsse, anfing

und schlug ihr vor, ins Kino zu gehen, zu tanzen, Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, aber sie schüttelte den Kopf und fuhr dann allein nach Bonn. Ich kann mir unter katholischer Luft nichts vorstellen. Schließlich waren wir in Osnabrück, und so ganz unkatholisch konnte die Luft dort nicht sein.